Praxis & Forschung

VR in der Behandlung von Angststörungen: Ein neuer Ansatz in der Psychotherapie

Fachlich geprüft von

Inês Lopes

Angststörungen gehören zu den häufigsten psychischen Erkrankungen weltweit. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden etwa 264 Millionen Menschen an einer Angststörung, was erhebliche Auswirkungen auf das tägliche Leben haben kann. Die herkömmliche Behandlung umfasst in der Regel eine Kombination aus kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) und medikamentöser Unterstützung.  

Doch in den letzten Jahren hat sich eine innovative Technologie als vielversprechende Ergänzung etabliert: In den letzten Jahren hat die Integration von Virtual Reality (VR) in therapeutische Prozesse zunehmend an Bedeutung gewonnen und sich als vielversprechendes Tool in der Behandlung von Angststörungen etabliert.  

Dieser Artikel beleuchtet die wesentlichen Aspekte des Einsatzes von VR in der psychotherapeutischen Behandlung von Angststörungen und gibt Fachpersonen einen Überblick über die Potenziale und Herausforderungen dieses neuen Therapieansatzes.  

 

Virtuelle Realität: Definition und Funktionsweise

Virtuelle Realität ist eine computergenerierte Simulation einer realitätsnahen Umgebung, in der Nutzer:innen über spezielle Geräte wie VR-Brillen oder Headsets visuell, akustisch und teilweise auch haptisch interagieren können. Die Technik ermöglicht es, immersive Erlebnisse zu schaffen, die die Sinne der Nutzer:innen ansprechen und sie in eine andere, simulierte Welt eintauchen lassen. Diese Eigenschaften machen VR besonders geeignet für therapeutische Zwecke, da Therapeut:innen in der Lage sind, Umgebungen und Szenarien individuell an die Bedürfnisse der Patient:innen anzupassen.

 

Einsatz von VR in der Behandlung von Angststörungen

In der psychotherapeutischen Praxis wird VR vor allem im Rahmen der Expositionstherapie verwendet. Die Expositionstherapie hat sich bei der Behandlung von Angststörungen besonders wirksam erwiesen. Bei dieser Methode werden Patient:innen kontrolliert mit den angstauslösenden Reizen konfrontiert, um eine Habituation herbeizuführen und die angstauslösenden Reaktionen langfristig zu reduzieren.

Eine der häufigsten Anwendungen von VR findet sich bei spezifischen Phobien wie der Höhenangst, Flugangst oder der Angst vor Tieren. Hierbei können Patient:innen in einer sicheren und kontrollierten Umgebung mit ihren Ängsten konfrontiert werden. Beispielsweise simuliert die VR-Brille einen Flug, bei dem Patient:innen in einer virtuellen Kabine Platz nehmen und die verschiedenen Flugphasen wie Start, Turbulenzen und Landung durchlaufen. Dadurch können Therapeut:innen die Intensität der Exposition schrittweise steigern und genau beobachten, wie Patient:innen auf die verschiedenen Reize reagieren.

Auch bei der sozialen Angststörung zeigt sich VR als effektives Mittel. Patient:innen können in einer simulierten sozialen Umgebung verschiedene Situationen durchspielen, etwa das Halten eines Vortrags oder das Führen von Gesprächen mit Fremden. VR bietet hier die Möglichkeit, das soziale Setting detailliert anzupassen und auf spezifische Herausforderungen der Patient:innen einzugehen, ohne dass eine tatsächliche Interaktion mit realen Personen erforderlich ist. Diese Methode fördert die Selbstwirksamkeit und ermöglicht eine langsame Annäherung an die realen sozialen Situationen.

 

Vorteile der VR-gestützten Therapie

Der Einsatz von VR in der Behandlung von Angststörungen bietet gegenüber herkömmlichen Methoden eine Reihe von Vorteilen, die sowohl für Patient:innen als auch für Therapeut:innen relevant sind.

 

Hohe Individualisierbarkeit: In der virtuellen Umgebung können Therapeut:innen die Szenarien, Intensität und Dauer der Exposition genau steuern und an den Fortschritt der Patient:innen anpassen. Das ermöglicht eine personalisierte Therapie, die optimal auf die Bedürfnisse und das Tempo der Patient:innen eingeht.

 

Erhöhte Sicherheit und Akzeptanz: Da die Patient:innen wissen, dass sie sich in einer virtuellen Welt befinden, fällt es ihnen häufig leichter, sich auf die Expositionsübungen einzulassen. Dies erhöht die Bereitschaft zur Teilnahme und verringert die Abbruchquote, die bei herkömmlichen Expositionstherapien aufgrund von Überforderung vergleichsweise hoch ist.

 

Zugänglichkeit und Flexibilität: VR bietet eine flexible Alternative zur realen Exposition, die manchmal schwer durchführbar ist (z. B. bei Flugangst oder traumatischen Erlebnissen). Dadurch wird die Therapie auch für Patient:innen zugänglicher, die aufgrund ihrer Angststörung Schwierigkeiten haben, an bestimmten Orten oder Situationen zu arbeiten.

 

Objektive Messbarkeit und Analyse: Mit VR können nicht nur subjektive Angaben der Patient:innen, sondern auch physiologische Parameter wie Herzfrequenz und Hautleitfähigkeit in Echtzeit erfasst werden. Diese Daten ermöglichen eine detaillierte Analyse des Angstverlaufs und geben Therapeut:innen wertvolle Hinweise auf den Therapieerfolg.

 

Studienlage: Wirksamkeit und Akzeptanz von VR-Therapien

Die Wirksamkeit von VR in der Behandlung von Angststörungen wurde in den letzten Jahren in verschiedenen wissenschaftlichen Studien untersucht. Eine Metaanalyse von Carl et al. (2019) zeigt, dass VR-gestützte Expositionstherapien bei der Behandlung von spezifischen Phobien, sozialer Angststörung und PTBS signifikant wirksam sind und vergleichbare Ergebnisse wie herkömmliche Expositionstherapien erzielen. Dabei wurden vor allem Verbesserungen in der Reduktion der Angstsymptome und eine hohe Akzeptanz bei den Patient:innen festgestellt. Auch eine Untersuchung von Maples-Keller et al. (2017) bestätigt diese Ergebnisse und hebt hervor, dass VR-Therapien weniger Abbruchquoten und eine höhere Zufriedenheit bei Patient:innen aufweisen.

 

Besonders bei Patient:innen mit schwer zugänglichen Ängsten hat sich die VR-gestützte Therapie als vielversprechende Ergänzung erwiesen. Die Möglichkeit, traumatische Szenen in einer sicheren, kontrollierten Umgebung zu erleben, ohne dabei realen Gefahren ausgesetzt zu sein, ermöglicht eine schonende Konfrontation und eine allmähliche Desensibilisierung.

 

Nichtsdestotrotz gibt es auch einige Herausforderungen, die bei der Implementierung von VR-Therapien zu beachten sind. So kann die Technik bei einigen Patient:innen Schwindel oder Übelkeit hervorrufen, was als „Motion Sickness“ bekannt ist. Zudem bedarf es einer gründlichen Schulung der Therapeut:innen im Umgang mit der VR-Technologie, um deren Potenzial vollständig auszuschöpfen.

 

Fazit

Die Integration von virtueller Realität in die Behandlung von Angststörungen stellt einen innovativen und vielversprechenden Ansatz in der Psychotherapie dar. Die Technologie ermöglicht es, Patient:innen in kontrollierter Umgebung mit angstauslösenden Situationen zu konfrontieren, ihre Ängste schrittweise zu reduzieren und gleichzeitig die therapeutische Kontrolle und Flexibilität zu erhöhen. Studien belegen die Wirksamkeit von VR-gestützten Therapien und weisen auf eine hohe Akzeptanz und Zufriedenheit bei Patient:innen hin. Dennoch sollte die Implementierung mit Bedacht und unter Berücksichtigung potenzieller Nebenwirkungen erfolgen.

 

Für Fachpersonen aus der Psychotherapie und Psychiatrie eröffnet VR neue Möglichkeiten in der Behandlung von Angststörungen. Durch die Kombination von bewährten therapeutischen Methoden und moderner Technologie kann die Behandlung personalisierter und effektiver gestaltet werden. Die weitere Erforschung und Anwendung von VR in der Psychotherapie wird in den kommenden Jahren sicherlich neue Erkenntnisse und Chancen bieten – mit dem Potenzial, die Behandlung von Angststörungen grundlegend zu verändern.

Quellen
Carlbring, P., Andersson, G., Cuijpers, P., Riper, H., & Hedman-Lagerlöf, E. (2017). Internet-based vs. face-to-face cognitive behavior therapy for psychiatric and somatic disorders: An updated systematic review and meta-analysis. Cognitive Behaviour Therapy, 46(1), 1–18.
Emmelkamp, P. M., Meyerbröker, K., & Morina, N. (2020). Virtual reality therapy in social anxiety disorder. Current Psychiatry Reports, 22(5), 32. https://doi.org/10.1007/s11920-020-1145-9