Auswirkungen von Hormonen und Mikronährstoffen auf die Psyche – was es in der psychotherapeutischen Praxis zu beachten gibt
Fachlich geprüft von
Inês Lopes

Psychische Gesundheit ist ein Zusammenspiel zahlreicher Faktoren – neben psychosozialen und genetischen Einflüssen haben in der psychotherapeutischen Praxis auch biochemische Grundlagen Erklärungspotential. Besonders Hormone und Mikronährstoffe spielen eine essenzielle Rolle für das emotionale Erleben, die Stimmungslage und die kognitive Leistungsfähigkeit.
In den letzten Jahren haben Studien die Relevanz von hormonellen Ungleichgewichten und Mikronährstoffmängeln in Zusammenhang mit Depressionen, Angststörungen, chronischer Erschöpfung oder Konzentrationsproblemen beleuchtet (z. B. Owen & Corfe, 2017; Marx et al., 2021). Dieser Artikel fasst zentrale Erkenntnisse zusammen und gibt Impulse, wie psychotherapeutische Fachpersonen dieses Wissen in ihre Praxis einfließen lassen können – sei es zur Gesprächsführung, zur differenzialdiagnostischen Abklärung oder zur interdisziplinären Zusammenarbeit mit Ärzt:innen.
Hormone als Regulatoren psychischer Prozesse
Cortisol und Stressreaktionen
Cortisol ist das bekannteste Stresshormon und eng mit der Funktion der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse (HPA-Achse) verknüpft. Chronisch erhöhte Cortisolwerte – wie sie häufig bei anhaltender Belastung auftreten – stehen in Verbindung mit erhöhter Reizbarkeit, Schlafstörungen, depressiven Symptomen und erhöhter Angstsensitivität. Studien zeigen, dass Menschen mit Major Depression oft eine Dysregulation der Cortisolausschüttung aufweisen (vgl. Pariante & Lightman, 2008).
In der psychotherapeutischen Praxis kann dies relevant sein, wenn Klient*innen über andauernde Erschöpfung oder emotionale Flachheit klagen. Eine weiterführende medizinische Diagnostik kann klären, ob eine Nebennierenfunktionsstörung oder eine chronische Überaktivierung der HPA-Achse vorliegt.
Schilddrüsenhormone und Stimmung
Eine Unterfunktion der Schilddrüse (Hypothyreose) kann Symptome wie Antriebslosigkeit, depressive Verstimmung, Konzentrationsprobleme und Kälteempfindlichkeit verursachen. Diese Beschwerden sind mitunter kaum von einer depressiven Episode zu unterscheiden. Besonders bei atypischen oder therapieresistenten Depressionen ist es empfehlenswert, eine Bestimmung der Schilddrüsenwerte anzuregen.
Eine Studie aus dem Jahr 2019 betont, dass etwa 15 % der Patient*innen mit Depressionen subklinische Schilddrüsenfunktionsstörungen aufweisen, die mit einer medikamentösen Einstellung deutlich gebessert werden konnten (vgl. Medici et al., 2019).
Geschlechtshormone: Östrogen, Progesteron und Testosteron
Auch Östrogen, Progesteron und Testosteron beeinflussen die Psyche stark – sowohl bei cis Frauen als auch cis Männern sowie bei trans und nicht-binären Personen, die hormonell behandeln. Schwankungen im Östrogen- und Progesteronspiegel, etwa in der prämenstruellen Phase, nach der Geburt oder in der Menopause, können Stimmungsschwankungen, Reizbarkeit oder depressive Episoden begünstigen.
Testosteronmangel wird mit depressiven Symptomen, verminderter Libido und Antriebslosigkeit in Verbindung gebracht – besonders bei älteren Männern, aber auch bei jüngeren mit endokrinologischen Erkrankungen (vgl. Zarrouf et al., 2009). In der psychotherapeutischen Praxis sollte bei entsprechenden Symptomen zumindest eine biografisch-hormonelle Kontextualisierung angeregt werden.
Mikronährstoffe: Kleine Bausteine mit großer Wirkung
Vitamin D – das „Sonnenvitamin“
Vitamin D hat nicht nur eine Bedeutung für den Knochenstoffwechsel, sondern auch für die Psyche. Zahlreiche Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen Vitamin-D-Mangel und depressiven Symptomen (vgl. Li et al., 2023).
Besonders in den Wintermonaten oder bei Menschen mit wenig Sonnenexposition ist ein Mangel häufig. Für die psychotherapeutische Praxis bedeutet das: Bei wiederkehrender Niedergeschlagenheit oder saisonal auftretenden Symptomen lohnt sich die Empfehlung, die Vitamin-D-Werte ärztlich überprüfen zu lassen.
Vitamin B12 und Folat
Ein Mangel an Vitamin B12 oder Folat kann zu Symptomen wie Erschöpfung, Gedächtnisstörungen, Konzentrationsproblemen und Stimmungstiefs führen. Besonders betroffen sind ältere Menschen, Vegetarier:innen, Veganer:innen oder Personen mit chronischen Magen-Darm-Erkrankungen.
Längsschnittstudien belegen, dass eine adäquate Versorgung mit B-Vitaminen protektiv gegenüber depressiven Entwicklungen wirken kann (vgl. Almeida et al., 2015). Im psychotherapeutischen Gespräch können Ernährungsgewohnheiten vorsichtig exploriert und bei Verdacht auf Mangelzustände zur weiteren Abklärung an ärztliche Kolleg:innen verwiesen werden.
Omega-3-Fettsäuren
Omega-3-Fettsäuren, insbesondere EPA und DHA, wirken entzündungshemmend und neuroprotektiv. Niedrige Spiegel werden mit erhöhtem Depressionsrisiko in Verbindung gebracht, insbesondere bei Menschen mit chronischen Erkrankungen oder in Phasen erhöhter psychischer Belastung (vgl. Mocking et al., 2016).
Supplementierungen zeigten in Meta-Analysen eine moderat positive Wirkung auf depressive Symptome, besonders als Ergänzung zur Psychotherapie oder Pharmakotherapie.
Magnesium, Zink und Eisen
Diese drei Mikronährstoffe spielen eine zentrale Rolle in der Neurotransmitterbildung und im Energiehaushalt des Gehirns. Ein Magnesiummangel kann mit erhöhter innerer Unruhe, Nervosität und Angstsymptomatik einhergehen. Eine systematische Übersichtsarbeit legt nahe, dass die Supplementierung bei niedrigem Magnesiumstatus zu einer spürbaren Reduktion von Angst- und Stresssymptomen führen kann (vgl. Boyle et al., 2017).
Auch ein Zinkmangel ist nicht zu unterschätzen: Er beeinflusst sowohl die Glutamat- als auch GABA-Aktivität im Gehirn und wird mit kognitiven Einbußen, depressiven Symptomen und verminderter Stressregulation in Verbindung gebracht. Eine Metaanalyse belegt, dass Menschen mit Depression signifikant niedrigere Zinkspiegel aufweisen als gesunde Vergleichsgruppen (vgl. Swardfager et al., 2013).
Eisenmangel, selbst ohne manifeste Anämie, kann sich durch Antriebslosigkeit, kognitive Verlangsamung und emotionale Instabilität bemerkbar machen. Gerade bei menstruierenden Personen ist dies ein häufiges, aber oft übersehenes Thema. Die Rolle von Eisen in der Dopamin-Synthese und der neuronalen Energieversorgung ist dabei zentral (vgl. Beard & Connor, 2003). Ständige Müdigkeit und Antriebslosigkeit kann ein wertvoller Hinweis sein, eine medizinische Abklärung des Eisenstatus anzuregen – insbesondere, wenn keine anderen Ursachen ersichtlich sind.
Was bedeutet das für die psychotherapeutische Praxis?
Psychotherapeut:innen dürfen keine Blutwerte bestimmen – das ist klar. Dennoch können wir eine wichtige “Lots:innenfunktion” übernehmen: Wenn Symptome auch durch eine Problematik im Hormon- oder Nährstoffhaushalt mitunter erklärbar sind, sollte eine ärztliche Einschätzung erfolgen. Aber auch bei:
- Therapieresistenz
- Chronischer Erschöpfung
- Atypischer Symptomatik
- Saisonaler Depression
- Stimmungsschwankungen im Zyklus oder Lebensphasenwechsel
… kann ein Hinweis auf medizinische Abklärung (z. B. bei Hausärzt:innen oder Endokrinolog:innen) ein wichtiger Baustein im ganzheitlichen Vorgehen sein.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit stärken
Gerade bei komplexen Fällen kann die Zusammenarbeit zwischen Psychotherapie, Allgemeinmedizin, Endokrinologie und Ernährungsmedizin ein Schlüssel zum Behandlungserfolg sein. Viele Klient:innen schätzen es, wenn therapeutische Fachpersonen auch körperliche Prozesse in den Blick nehmen – ohne dabei in medizinische Zuständigkeiten einzugreifen.
Fazit
Die Psyche funktioniert nicht losgelöst vom Körper – und Körperprozesse wie hormonelle Regelkreise oder Mikronährstoffversorgung haben erheblichen Einfluss auf unser Erleben, Denken und Fühlen. Für psychotherapeutisch tätige Personen lohnt es sich, biochemische Grundlagen in der Fallanalyse mitzubedenken, gezielte Fragen zu stellen und bei Bedarf medizinische Abklärung zu empfehlen.
Diese bio-psycho-soziale Perspektive erweitert nicht nur das therapeutische Verständnis, sondern kann auch Klient:innen entlasten – indem sie das Gefühl bekommen, ganzheitlich gesehen zu werden.
Gleichzeitig eröffnet sich hier ein Feld für interdisziplinäre Kooperationen, das zu nachhaltigeren Therapieerfolgen beitragen kann – insbesondere bei komplexen oder langwierigen Verläufen.
Dieses Wissen ist ein wertvoller Baustein für jede therapeutische Werkzeugkiste.
Quellen:
Almeida, O. P., Ford, A. H., Hirani, V., & Flicker, L. (2015). Vitamin B12 and folate levels and risk of depression in older community-living adults. The British Journal of Psychiatry, 206(6), 456–464.
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